Digitaler Hirnkurs

30.03.1999 -

Neuroanatomieausbildung im Studiengang Diplom-Psychologie

Als Ende der 80er Jahre von US-amerikanischen Politikern das Jahrzehnt des Gehirns ausgerufen wurde, um US-amerikanische Wissenschaftler zur intensiven Auseinandersetzung mit Gehirnprozessen und deren Einfluß auf menschliches Verhalten zu motivieren, war die Wirkung dieses Aufrufes nicht vorhersehbar. Mittlerweile hat er zu einem tief verwurzelten Bedürfnis geführt, menschliches Verhalten im Zusammenhang mit Gehirnprozessen zu sehen. Aus diesem Grunde wurde an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg 1995 der Studiengang Diplom-Psychologie mit besonderem Schwerpunkt im Bereich der Neuropsychologie und kognitiver Neuropsychologie eingerichtet.

Dieser Studienschwerpunkt erfordert zwangsläufig eine dezidierte Ausbildung in funktioneller Neuroanatomie für Diplom-Psychologie-Studenten, ein Ausbildungsziel, das in Deutschland bislang nur von einer Universität für diesen Studiengang angeboten wird. An der Magdeburger Universität haben die Psychologie-Studenten die Gelegenheit, neben den Vorlesungen in Neuroanatomie und der allgemeinen Neurowissenschaft auch eine bis dahin einzigartige Ausbildung in Neuroanatomie zu genießen, die fast ausschließlich auf digitale Hirnatlanten zurückgreift.

Das wesentlich Neue dieses Lehransatzes besteht darin, daß die Studenten in entsprechenden Praktika in die Neuroanatomie und in die Handhabung von Neuroanatomiesoftware eingewiesen werden. Dadurch erwerben sie die Fähigkeit, die interessierenden anatomischen Strukturen in den digitalen Gehirnen zu identifizieren und die relative Lage der interessierenden Strukturen zu anderen Gebieten dreidimensional zu erfassen. Die verwendete Software ermöglicht es den Studenten, die Hirngebiete interaktiv von mehreren Seiten bzw. Blickwinkeln zu betrachten. Hierdurch entwickelt sich sehr schnell ein dreidimensionales Verständnis des komplexen Gehirnaufbaus.

Hervorzuheben ist, daß die Studenten jederzeit Gelegenheit haben, digital durch das menschliche Gehirn zu navigieren. Hierzu sind von der Universität 30 Computer angeschafft worden, die im Institut für Psychologie plaziert sind, auf denen die entsprechende Software installiert wurde. Über diese Rechner besteht im übrigen auch die Möglichkeit, via Internet weitere Informationen zur Neuroanatomie abzurufen (z.B. Harvard Brain Atlas). Die am Institut für Allgemeine Psychologie verwendete Software umfaßt verschiedene digitale Hirnatlanten, so daß die Vorteile der verschiedenen Produkte genutzt werden können. Das Programm Interbrain aus dem Springer Verlag z.B. bietet höchst mögliche Kompatibilität mit dem Standardwerk der Neuroanatomie Das Zentralnervensystem des Menschen von Niewenhyus. Andere Programme wie der NeuroTutor bestechen durch ihre vielfältigen Informationen, die quasi nebenbei geboten werden. Brainiac und ähnliche Programme erlauben auf einfache Art und Weise Oberflächen- und Tiefenstrukturen des Gehirns zu lernen.

Die Abbildungen zeigen drei Ansichten digitalisierter post mortem Gehirne, wie sie im digitalen Hirnatlas dargestellt werden. Diese Gehirne können von den Studierenden digital "geschnitten" und weiterverarbeitet werden. oben: Anblick von der Seite; Mitte: Anblick eines Medialschnittes; unten: Anblick von unten

Alle Programme ermöglichen eine intensive Prüfungsvorbereitung, indem die Studenten sich selbst hinsichtlich ihrer neuroanatomischen Kenntnisse testen können. Die Programme bieten z.B. eine anatomische Struktur visuell an, und die Studenten haben dann die Aufgabe, diese Struktur zu benennen. Dieses Ausbildungskonzept hat folgende Vorteile: 1. Die Studenten müssen nicht auf die relativ spärlich vorhandenen Gehirne Verstorbener zurückgreifen, 2. die digitalen Gehirne sind praktisch immer verwertbar und sind nicht wie bei den post mortem Gehirnen nach dem Präparationskurs praktisch nicht mehr zu gebrauchen und 3. die Studenten haben neben den Pflichtkursen auch die Gelegenheit, gemäß der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit, selbständig ihre Kenntnisse in praktischer Neuroanatomie zu erweitern.

Der derzeit vorhandene Standard dürfte sicherlich für die Psychologieausbildung einzigartig sein. Dennoch werden von den Verantwortlichen für dieses Projekt auch neuere Konzepte und Methoden der Neuroanatomieausbildung (z.B. internetbasierte Systeme) intensiv auf ihre Lehrtauglichkeit überprüft, so daß davon auszugehen ist, daß die Neuroanatomieausbildung von Diplom-Psychologen an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg auch in Zukunft auf einem hohen Standard durchgeführt werden wird.


Autor:in Prof. Dr. Lutz Jäncke

Letzte Änderung: 30.03.1999 -
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