Ein Leben mit Büchern

18.12.1999 -

Autobiographie von Marcel Reich-Ranicki

Marcel Reich-Ranicki
Mein Leben
Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 1999
ISBN 3-421-05149-6

Der Literaturkritiker, Autor und Literaturwissenschaftler Marcel Reich-Ranicki ist eine literarische Institution. Wie kaum ein anderer Kritiker ist Reich-Ranicki bewundert und gescholten. Er hat mit dem "Literarischen Quartett" seit 1988 im ZDF deutsche und internationale Literatur populär gemacht. Er hat gemeinsam mit Hellmut Karasek und Sigrid Löffler sowie einem ständig wechselnden Gast scharfzüngig, polemisch, unterhaltsam und streitbar um Literatur und Autoren gekämpft, so manches Buch "verrissen", so manchen (jungen) Autoren für sein Erstlingswerk gelobt und für spätere Romane gescholten.

Zeitkritische Chronik

Nun hat er sich mit seiner Autobiographie zum bevorstehenden 80. Geburtstag selbst der Literaturkritik gestellt, hat sein "Leben mit Büchern" erzählt und dabei eine anrührende, ehrliche und zeitkritische Chronik eines bewegten Lebens zwischen Angst, Gefahr, Hoffnung und Zuversicht geschrieben. Wer freilich ein Stück deutscher Literaturgeschichte, chronologisch in Zeitraffer aufgeschrieben und aus dem Blickwinkel eines Zeitzeugen und Kritikers erzählt und bewertet, erwartet, muss enttäuscht sein. Das Buch ist zuallererst eine Liebesgeschichte. Eine Geschichte von Reich-Ranicki und seiner Liebe zu seiner Frau Tosia in einer Zeit der ständigen Lebensbedrohung, des Versteckens, der Flucht aus dem Warschauer Ghetto und der Emigration nach England, dem Zurück nach Polen bis zur endgültigen Rückkehr nach Deutschland, dass er als junger Mann verlassen musste und doch als Land der "Dichter und Denker" immer liebte.

Im ersten Teil des Buches beschreibt er mit großer Feinfühligkeit und sehr detailreich sein Entdecken der deutschen Literatur und des Berliner Theaters. Beglückende Momente der Begegnung mit den großen Künstlern der damaligen Zeit schildert Reich-Ranicki immer auch unter dem Aspekt der Gefährdung des Menschen durch den aufkommenden Faschismus. Es ist schon ein großes Stück deutscher Literatur, wie Marcel Reich-Ranicki das Leben und Überleben im Warschauer Ghetto im ständigen Angesicht des Todes beschreibt und auch, woher die Schwachen ihre Kraft zum Weiterleben nahmen. Er selbst schöpfte immer wieder Kraft aus Büchern, die stets bei ihm waren. Auch in einer Zeit, die im Buch etwas im Dunkeln bleibt, und die Frage, ob er geheimdienstlich tätig war oder nicht, nicht ganz eindeutig und schlüssig beantwortet.

Von Begegnungen

Wie auf einer "Perlenschnur" sind im zweiten Teil des Buches episodenhaft die vielen Begegnungen, Streitgespräche, Freundschaften und Fehden Reich-Ranickis mit Schriftstellern des Nachkriegsdeutschlands aufgeschrieben. Das liest sich sehr amüsant, lässt aber wenig Rückschlüsse auf die innere Befindlichkeit des Autors, auf die Beeinflussung seines Lebens durch diese Begegnungen zu. Man erfährt Interessantes über das politische und literarische "Innenleben" der "Gruppe 47", über seine Begegnung mit der jungen Gudrun Ensslin in Hamburg, mit Günter Grass in Warschau und anderswo oder Walter Jens. Pointiert und auch mit Hintersinn beschrieben sind seine Begegnungen mit Bertolt Brecht, Anna Seghers, Elias Canetti und Ingeborg Bachmann. Und man erfährt etwas von Reich-Ranickis nicht immer problemfreien Arbeit als Literaturkritiker der Wochenzeitung "Die Zeit" und später als Literaturchef der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Aus vielen Episoden entsteht so ein Zeitbild vom literarischen Leben in Deutschland, dass durch Marcel Reich-Ranicki auch mit seinen Büchern über Heinrich Heine, Thomas Mann, vor allem aber mit der millionenfachen Wirkung des "Literarischen Quartetts" auf den literarischen Geschmack der Leser im Leseland Deutschland geprägt wurde und wird. Gewollt oder nicht gilt auch für sein Buch, was seit zwölf Jahren der Schlusspunkt der Diskussion im "Literarischen Quartett" des ZDF ist: "Der Vorhang zu und alle Fragen offen!"


Autor:in Prof. Dr. Herbert Henning

Letzte Änderung: 18.12.1999 -
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